Die Boutique

Es gibt hier in W. einen kleinen Klamottenladen, kaum breiter als seine Eingangstür. Hinter den schmalen Schaufenstern hängen immer sorgfältig ausgewählte, wunderschöne Abend- oder Partykleider, stets mit einer perfekten Mischung aus Stil und Sex. Am Sonderangebote-Ständer unter dem Sonnendach hängen Jeans und Oberteile, ebenfalls immer tolle Teile, mit englischen Kleidergrößen und Preisen im gerade erst zweistelligen oder sogar einstelligen Bereich.
Über den Laden wacht eine kleine, türkischstämmige Frau wie eine Löwin und, wenn sie frei hat, ihre Tochter, die bei Leerzeiten gern mit dem Nachbarn schnackt, der Telekommunikationsverträge anbietet.

In diesem wunderschönen Laden habe ich vor Jaaaahren mein Abtanzballkleid gekauft, das ein paar Jahre später mein Abiballkleid wurde.

Als letztes Jahr Meikes Hochzeit anstand, führte mich mein Weg ebenfalls wieder in diese Boutique. Noch bevor ich selbst einen Blick auf das Angebot werfen konnte, war die Inhaberin bereits bei mir um zu erfahren, wie sie mir helfen könne. Ich sagte ihr den Anlass, sie fragte mit hochgezogenen Augenbrauen nach meiner Größe, ich antwortete wegen der weiblichen Hüften leise eine Schnapszahl, sie grunzte. Dann holte sie zielsicher vier Kleider hervor, eines schöner als das andere, und verkündete, mehr was mir passen könnte, habe sie nicht.
War auch nicht schlimm, ich habe mich gleich verliebt und das Kleid nicht nur zur Hochzeit im September, sondern auch zum FH-Ball im November getragen.

Ein anderes Mal (ich kann mich leider beim besten Willen nicht erinnern, ob es 2008 oder 2009 war, auf jeden Fall muss es warm gewesen sein) habe ich die Finger nicht vom Lockangebot lassen können und mir vom Außenständer drei Oberteile ausgesucht. Schüchtern brachte ich sie hinein und wurde von der Tochter auch gleich zur Umkleide gelotst – was mir ganz lieb war, denn ich hatte Angst davor, mich im Laden auch noch mal umzusehen.
Ich probierte die Teile an und passte in keines davon hinein. Hatte ich erwähnt, dass ich nicht weiß, wie man englische Größen in deutsche umrechnet? Jedenfalls stand die kleine Türkin die ganze Zeit vor meiner Kabinentür und erkundigte sich in regelmäßigen Abständen, wie mir die Ware gefällt. Und aus Scham, meine Ausmaße zuzugeben, habe ich ein rosanes Oberteil mit „Presswurst-Alarm“ einfach gekauft. Ha, das habt ihr davon, dass ihr denkt, ich sei zu dick für eure Mode!
Das Top wanderte direkt in eine Ecke meines Kleiderschrankes, ich machte mir nicht mal die Mühe, das Preisschild zu entfernen und dachte nur noch ganz selten, in sehnsüchtigen Momenten an diesen Besitz.

Nun suchte ich gestern verzweifelt nach einem Abendkleid für die Hochzeit am nächsten Wochenende. Zwar war ich zuerst in einem großen Modehaus, aber ich hab die ganze Zeit gewusst, dass ich nur in diesem kleinen Laden mein Kleid kaufen wollen würde. Nicht nur, weil die Klamotten dort keine dreistelligen Preise erreichen.
Während ich vor der Ladentür vortäuschte, die Sonderangebote zu studieren, sondierte ich die Lage: Die Löwin war wieder da, allerdings mit einer anderen Kundin beschäftigt. Ich schluckte sämtliche Selbstachtung hinunter, bereitete mich seelisch schonmal auf die Demütigung vor und stürmte zielsicher hinein.
Die Türkin grüßte mich, verpasste allerdings die Gelegenheit, meine XL-Finger von ihrer XS-Ware fernzuhalten. Verbissen durchblätterte ich Kleid für Kleid, inzwischen wusste ich, dass ich in die Größe 6 niemals passen würde und hielt verzweifelt Ausschau nach zweistelligen Größen.
Im Hintergrund dröhnte währenddessen der Schatz: „Du wolltest kein schwarz.“, „Das ist unter der Brust abgebunden, das wolltest du nicht.“, „Ich mag diese komische Schnürung nicht.“ bis mir die Schweißperlen auf der Stirn standen. Ich ging also unverrichteter Dinge, nicht mal Größe 10 (in die ich auch nicht passen würde – ich bin vorher im Modehaus in einem 42er-Kleid stecken geblieben) war aufzufinden. Und ich schwöre, die Löwin hat gegrinst, als ich mit leeren Händen an ihr vorbei durch die Tür ging.

Deprimiert gönnten wir uns einen Imbiss (der nicht gut war, ich berichtete) und überlegten kurz, nochmal in die Boutique zu gehen und gründlicher zu suchen. Mir kam sogar der Gedanke, meine Freundin J. anzurufen und zu bitten, sich in dem Laden so schlecht zu benehmen, dass ich in Ruhe gucken konnte. Ich verwarf das alles zugunsten der letzten Überreste meiner Würde.

Wir gingen nach Hause und machten uns für die abendliche Party fertig. Auf der Suche nach einem Outfit räumte ich meinen Schrank aus und dabei fiel mir das rosane Oberteil in die Hände, noch mit dem Preisschild versehen.
Ich schloss leise die Schlafzimmertür um nicht überrascht zu werden und probierte es an. Und das Wunder geschah: Es passte. Nicht perfekt, aber durchaus öffentlichkeitstauglich. Und in diesem rosa Oberteil habe ich die Nacht durchgetanzt und es war geil. Da staunt ihr, ihr XS-Fetischisten!