Abfahrt in W., 09:44h. Vor mir sitzt ein rotbärtiger, 32jähriger Mann mit Kappie, der konzentriert seinen JVA-Entlassungsschein studiert. Bei jedem vorbeigehenden Mitfahrer blickt er kurz auf und verfolgt ihn mit den Augen. Links von mir hat es sich ein Mann 2.0 bequem gemacht. Mit Ohrstöpseln, Coffee to go und Laptop wirkt er sehr entspannt und ich wäre gern wie er, müsste nur erstmal die Geheimnisse des W-Lan entdecken.
Umsteigen in O., 10:25h. Der Mann 2.0 wirkt jetzt nicht mehr so gelassen, der Kollege, den er anruft, ist nicht im Büro und die Vertretung kennt die Nummer von Sandra, die er unbedingt bräuchte, leider nicht. Im Gedränge umzusteigen, dabei schlecht laufende Telefonate zu führen und einen Laptop zu transportieren ist nicht gut vereinbar.
Abfahrt in O., 10:35h. Ich sitze neben einem Vierer, die in diesem Zug sozusagen versetzt angebracht sind. Zwei ältere Pärchen haben diesen in Beschlag genommen, die Männer sitzen gegen Fahrtrichtung und damit auf der anderen Seite neben mir, die ich in Fahrtrichtung sitze. Die zugehörigen Frauen, ihnen gegenüber, kann ich kaum sehen, eigentlich nur hören. Es riecht gut nach frischem Kaffee, sobald sie ihre Thermoskannen öffnen. Kurz nachdem eine der Frauen zur Toilette verschwunden ist, glaube ich im Augenwinkel ein Tier vorbeihuschen zu sehen, aber als ich reflexartig den Kopf wende, erwische ich das verbliebene Pärchen beim Füßeln. Er trägt große schwarze Schuhe.
Umsteigen in B., 11:05h. Ich habe fast eine halbe Stunde Aufenthalt und halte zielstrebig auf LeCrobac zu. Dieser Imbiss hat seit einer Bahnfahrt mit meiner Mutter vor vielen Jahren etwas Magisches für mich. Ich erinnere mich nicht mehr an das Ziel der damaligen Tour, nur noch an das im Croissant eingebackene Würstchen. Um Kalorien zu sparen, nehme ich nur ein Baguette. Ich bin total überrascht, dass ich an der Baguette-Theke direkt als nächste dran bin, obwohl einen Meter weiter bei den Croissants eine Schlange steht. Deshalb wähle ich einfach das Angebot, das mir am nächsten ist und ärgere mich, als der vorige Kunde daraufhin zur Seite tritt und den Blick auf viel verführerischere Hähnchen-Baguettes freigibt. Wegen meiner mangelnden Vorbereitung (und weil der Verkäufer nicht sehr nett ist), kaufe ich mir meinen Latte Macchiato to go bei einer Bäckerei neben meinem Gleisaufstieg.
Ich verbringe die übrigen 15 Minuten Wartezeit außerhalb des geschäftigen Gedränges, oben am Gleis. Mein Hintern friert eventuell an der Eisenbank fest, aber der Latte Macchiato hält mich warm, mir geht es gut. Zehn Minuten vor der Abfahrt wird der Zug freundlicherweise schon bereitgestellt. Ich verspeise im Waggon mein Baguette.
Abfahrt in B., 11:29h. Hinter mir klingelt ein Handy. Einer von den Klingeltönen, die man problemlos mutmaßlich älteren Besitzern mit wenig Technikkenntnissen zuordnen kann. Eine Frau, die eben noch mit ihren Freundinnen gekichert hat, versucht jetzt ihrem Mann die Bedienung des Computers zu erklären. Sie diktiert mehrfach ein Passwort, die großen Lücken zwischen den einzelnen Buchstaben lassen darauf schließen, dass ihr Mann äußerst selten eine Computertastatur bedient.
Ankunft in H., 12:42h. Obwohl dieser Bahnhof vier Ausgänge besitzt, erwische ich auf Anhieb den richtigen. Ich bin stolz auf mich. Im Gang Richtung Außenwelt flattern Tauben, viele Passanten zucken nicht einmal, wenn ein Vogel auf sie zu fliegt. Es riecht nach Pizza und Schmalzkuchen.
Abfahrt in H., 15:15h. Komfortablerweise wird der Zug in dem Moment bereit gestellt, in dem ich die Treppen zum Gleis herabschreite. Obwohl die Waggons völlig leer sind, steckt mich das allgemeine Gedränge so an, dass ich den nächstbesten Sitz in mutmaßlicher Fahrtrichtung nehme. Ich täusche mich. Zwei Mädchen, die sich Mittagessen mitgenommen haben, geben dem gesamten Wagen einen dezenten Geruch nach Brathühnchen. Ich bekomme Hunger.
Umsteigen in B., 16:29h. Ich bin beim Aussteigen so von einem Plakat abgelenkt, dass ich ungebremst in den gigantischen Rucksack des jungen Mannes laufe, der vor mir gegangen und nach wenigen Schritten stehen geblieben ist. Ich entschuldige mich erschrocken, er sieht mich an als fürchte er einen Überfall.
Abfahrt in B., 16:54h. Erneut war ich beim Sitzplatzkampf zu nachlässig, ich fürchte, dass meine Jeans Schokoflecken vom Sitz bekommt. Der Verursacher der Krümel kann noch nicht weit sein, das Polster ist noch warm. Ich ekele mich, kann aber nicht mehr wechseln. Vor mir ist ein älteres Ehepaar empört über die drei riesigen Koffer, die ein junger Mann nun mühsam zur Seite räumt um ihnen Platz im Vierer zu schaffen. Der Mann, der sich neben mich gesetzt hat, liest eine Frankfurter Allgemeine oder etwas ähnlich niveauvolles. Den Sportteil. Im Vierer auf der anderen Seite diskutieren drei Mädchen über studienrelevante Themen. Die Tongeberin schlägt der einen Freundin mögliche Studienfächer vor, von Spanisch über Wirtschaft bis zu angewandter Mathematik. Die angehende Studentin zögert noch. Mit der dritten diskutiert das laute Mädchen über Vor- und Nachteile bestimmter Dozenten. Als ihr Handy klingelt, lauten die Gesprächsfetzen: „Wow, du hast eine 1 bekommen? Bei dem? Was ist denn mit dem los, dass er plötzlich so großzügig bewertet?“ Ich bin froh, dass ich nettere Freundinnen habe als das Mädchen am Telefon.
Ankunft in O., 17:23h. Obwohl die andere Zugtür weiter weg ist, folge ich den drei (angehenden) Studentinnen nicht. Ein Mann, der gerade in den Zug steigt, als ich aussteige, teilt seiner Freundin telefonisch mit, dass der Zug offenbar („welch Wunder!“) pünktlich sein wird und er sich auf sie freut. Ich habe, wie immer an diesem Bahnhof, einen Moment lang Orientierungsschwierigkeiten, bevor ich mich entscheide, nach links zu gehen. Ich kann den Ausgang sehen. Menschen begrüßen sich, umarmen sich, jubeln. Der Parkplatz ist in Sicht. Ich halte Ausschau nach einem großen Mann oder einem silbernen Polo und laufe zögernd die parkenden Autos entlang. Dann fährt ein Wagen herbei, mein Herz hüpft. Der Schatz parkt neben mir, entriegelt die Beifahrertür und gibt mir einen Kuss.
Zurück in meiner Wirklichkeit.